So wurde an dieser Schule zum 4. und 5. Mal das Graecum erreicht, aus einer AG heraus, mit jahrelangem, unglaublich stetigem Engagement von zwei Schülerinnen: Selina Endres und Ursula Olpen. Aber der Fleiß würde nichts nützen, wenn er nicht auf ein großes Sprachtalent und Begeisterung gestoßen wäre. Ich hoffe, dass Odysseus und Telemachos sie in ihrem Leben weiter begleiten und dass sie die Erinnerung daran, wie man das antike Leben in dieser erstaunlich reichen Sprache erleben kann, sie nicht verlässt.
Um die Leistung von Selina und Ursula etwas zu einzuschätzen: Stellen Sie sich vor, ein Flüchtling, der gerade mal vier Jahre Deutsch gelernt hat, mit 2-3 Stunden Unterricht pro Woche, muss in einer 3-stündigen Klausur nun Goethe in seine Heimatsprache übersetzen. So ungefähr ist das, wenn Schülerinnen nach 4 Jahren Lehrbuchunterricht aus der Odyssee von Homer übersetzen müssen, eine Sprache, die etwa 400 Jahre älter ist als das attische Griechisch aus unseren Lektionen. Nein, eigentlich ist der Unterschied noch krasser, es ist so, als ob sie als Sprachfremde das Nibelungenlied übersetzen müssten. So unterschiedlich ist die Sprache. Natürlich gibt es Wörterbücher und jede Menge Angaben zu den seltsamen Wortformen, aber es bleibt eine gewaltige Herausforderung, die die beiden jetzt bewältigt haben.
Vor dieser Kraftanstrengung haben sie vier Jahre lang wöchentlich Altgriechisch gelernt, freiwillig, neben der Schule, in einer AG. Das war erst einmal die seltsame, aber sehr hübsche Schrift zu beherrschen, das dauerte eine Weile, bis sich da die Welt der Wörter auftat. Dann ging es ans Wörterlernen. Eine kleine Hilfe war dabei, dass sich viele in unseren Fremdwörtern wiederfinden. Homöopathie, Monolith, Rhythmus, diese Verwandtschaften zu unserer Sprache aufzudecken, hat ihnen immer viel Vergnügen bereitet. Damit konnten sie auch manchmal ihre Lehrer überraschen, was immer ein schönes Ereignis war. Neben der exotischen Schrift und den Wörtern gab es auch abenteuerliche Grammatik, die sich die beiden aneignen mussten. Neben Konjunktiv und Indikativ, alte Bekannte aus allen Sprachen, haben wir einen Optativ, einen Wunschmodus. Neben dem Aktiv und Passiv, was jede Sprache aufweist, ziert das Griechische noch das Medium – das angibt, dass man etwas für sich tut. Als wäre das nicht genug, gibt es neben Singular und Plural sogar einen Dual. Das Altgriechisch ist wirklich eine Sprache, in der man sich sehr differenziert ausdrücken kann. Für weitere Differenzierungen hilft ein Blick auf all die „kleinen Wörter“, kleine Adverbien, die jeden Satz mit noch mehr Nuancen versehen, die in unserer Sprache nicht einmal adäquat übersetzt werden können – man kann die Bedeutung eigentlich nur erahnen, aber man schafft es wirklich, dieses Unsagbare intuitiv zu erfassen. Jeder übersetzte Satz ist eine Entdeckungsreise in ein Land mit unbekannten Ausdrucksmöglichkeiten. Sehr spannend!
Und für alle, die interessiert bis hierher gelesen haben: Im Herbst öffnet die Altgriechisch AG wieder ihre Tore für neue Interessenten dieser unglaublich feinen und schönen Sprache!
Dr. Heinke Stulz